Als ich das Tagebuch der Anne Frank mit elf oder zwölf Jahren das erste Mal in die Hand nahm, kam ich nicht weiter als sechs oder sieben Seiten. Ich musste es nicht pflichtmäßig für die Schule lesen. Ich habe aber überlegt, es für eine Buchvorstellung auszusuchen.

aktuelle Edition von Mirjam Pressler

Aber dann fand ich die ersten paar Seiten einfach langweilig und unverständlich und brachte das Buch zurück in die Bibliothek.
Das waren doch nur die alltäglichen Gedanken eines kleinen Mädchens, das schon tot war.
Da schrieb sie über irgendwelche Schulfreunde und Jungs, und wer in ihrer Klasse wohl versetzt würde - was fanden nur alle daran? Etwas naiv hatte ich wohl ein Tagebuch erwartet, das während einer halsbrecherischen Flucht mitten durch Bombenhagel und ähnlich wie ein Roman geschrieben wäre.

Mit etwa 14 Jahren machte ich einen neuen Versuch und las das Buch auch durch. Im ähnlichen Alter wie Anne, konnte ich mich diesmal sehr gut in ihre Gedanken zur Periode, zu ihrer Mutter oder zu Peter hinein versetzen. Auch das Gefühl, viel reifer zu sein als das Umfeld annimmt, erkennt bestimmt jeder junge Mensch wieder. Diese Themen, die einfach mit dem erwachsen werden zu tun haben, erreichten mich über die Zeit hinweg.

Anne Frank Statue am Merwedeplein

Ich wusste damals nicht, dass die Familie verraten worden war. Ich bin davon ausgegangen dass ich das Buch immer weiter lesen kann bis zu dem Punkt, bis zu dem sie es veröffentlicht haben wollte. Ich wusste zwar, das Anne Frank gestorben war, aber irgendwie war es mir unklar. So hat es mich kalt erwischt, als ich nach dem letzten Eintrag vom 1. August 1944 umblätterte, und dann die Erklärung las, dass die Familie am 4. August am Vormittag verhaftet wurde und dass Anne im KZ Bergen-Belsen gestorben ist.
Grade hatte ich noch von ihren Zukunftsplänen und Wünschen gelesen. Sie liebet die Natur. Sie konnte ihren Glauben an die Menschheit so schön in Worte fassen. Jetzt hatte ich einen Schimmer davon, was so viele Menschen berührte. Ihr Hoffnung und ihr optimistisches nach Vorne sehen hat sie nicht gerettet. Ihr Traum hat sich nicht erfüllt und sie muss mit dem Gedanken gestorben sein, nie etwas von dem verwirklicht zu haben, was sie sich wünschte.

Wir denken, dass einem guten Menschen ein so ungerechter und grausamer Tod nicht geschehen darf. Und die Tagebücher sind für und Zeugnis dessen, dass Anne ein kluges Mädchen mit einer optimistischen Weltsicht war. Doch durch das den ganze Kontinent umspannende Mordnetzwerk der Nazis ist auch dieses Mädchen gestorben.

Nur durch eine Reihe von Zufällen ging ihr Tagebuch nicht verloren. Ihr Vater machte dessen Verbreitung zu seiner Lebensaufgabe und Annes Idee von der Veröffentlichung der Hinterhausgeschichten wurde nach ihrem Tod wahr. So sind ihre unerfüllten Wünsche und Träume unsterblich geworden. Dabei hat Anne so ehrlich und authentisch geschrieben, dass sich die Menschen in ihr wiederfinden können und das Gefühl bekommen, sie zu kennen.

Kirchturm der Westerkerk

Damals, nach diesem ersten Durchlesen, hat mich nur Anne interessiert. Ich habe einige Stellen des Buches noch einmal gelesen, dann alles, was meine Mutter noch im Haus hatte. Es war sehr ergiebig: Eine Biographie der Familie Frank, ein Buch von Miep aus ihrer Sicht, Eine Buch mit Berichten aus den Konzentrationslagern von Frauen, die Anne noch das ein oder andere Mal gesehen hatten. Ich wusste jetzt schon so viel über die Familie und die Situation, auch über die anderen Untertaucher im Hinterhaus. Und es hat mich nicht mehr los gelassen. Natürlich fällt es immer schwerer, noch Neues zu finden, die Leben der Untertaucher sind beendet. Aber ich sauge jedes Fitzelchen auf, dass mir unter kommt.
Inzwischen habe ich die Geschichte so verinnerlicht, dass ich, wenn ich anderes über den zweiten Weltkrieg lese, Annes Leben als Richtwert habe. Ich lese ein Datum und mir fällt ein, wo die Familie Frank zu dieser Zeit ungefähr war. Waren sie noch in Frankfurt? War Anne noch auf der Montessori-Schule? Waren sie schon im Versteck? So verknüpfe ich die neue Information und sie scheinen mir näher.

Statue Anne Frank vor der Westerkerk

Ich erlebe, wie wichtig es ist, Zeugnisse zu haben, die einem nahe gehen, um besser zu verstehen und um die Gefahr des Vergessens zu verringern.

Als ich im September 2016 endlich selbst die Möglichkeit hatte, das Anne Frank Haus in Amsterdam zu besuchen, stand von der Museumskasse eine lange Schlange über der Platz vor der Westerkerk und hinten um die Häuserzeile herum. So sieht es dort jeden Tag aus. Und ich habe mich den Menschen verbunden gefühlt für diese eine Geschichte, die uns allen wichtig genug war, um an diesem Tag dort zu sein.

Das Buch ist eines der meistgelesenen der ganzen Welt. Die genauen Angaben schwanken, aber ich denke nach meiner Recherche sagen zu können, dass es unter den zehn meistgelesenen ist. Ich bin mit meiner Betroffenheit sicher nicht allein. Für einige mag das Tagebuch der Anne Frank ebenfalls ein Lebensbuch sein.

Habt ihr Das Tagebuch der Anne Frank auch gelesen? Unter welchen Umständen kam es dazu, und hat es euch berührt?

Genauso würde ich mich freuen zu hören, was eure Lebensbücher sind und was ihr mit ihnen verbindet.


Ich werde diese Reihe zum Thema Lebensbücher fortsetzen. Wahrscheinlich nicht zu jedem freien Freitag, aber immer mal wieder zwischendurch. Macht euch das Wochenende schön!