Bis zum Schluss habe ich meine Gedanken zu den Büchern, die beim Bloggerpreis "Das Debüt 2017" vom Blog Das Debüt auf der Shortlist gelandet sind, hin und her geschoben. Ich habe versucht, gleichzeitig Eindrücke sacken zu lassen, und mir konkreter zu machen und habe noch einmal die letzte Nacht darüber geschlafen.

Auf Sprache und Stil wolle ich besonders achten, und auf die Neuheit der Perspektive, so habe ich es mir zu Anfang vorgenommen.

Eine interessante und deutliche Sprache aber, das war mir nach dem Lesen aller Bücher klar, ist bei jedem der Kandidatenbüchern gegeben. So habe ich sie letztendlich in meiner Wertung nicht stark berücksichtigt. Den Stil aber schon.

Andere Bewertungsgesichtspunkte, wie die Leseerfahrung und die Themenwahl und -Relevanz sind mir neben der Erzählperspektive wichtiger geworden. Denn ich habe erkannt: nicht ich lege zwangsläufig die Bewertungskreterien fest, sondern die Werke der Shortlist geben mir auch Maßstäbe für Eigenschaften vor, indem sie darin glänzen oder auch zu wünschen übrig lassen.

Alle Werke waren meiner Meinung nach berechtigt auf der Shortlist und sind damit schon mal herausragend, aber nun muss man ja einmal Punkte vergeben.

Und jetzt wird’s konkret:

5 Punkte - "Das Genie" von Klaus Cäsar Zehrer

"Wissen ist Macht" sagt man, doch für William James Sidis - Kindergenie und der intelligenteste Mensch, der jemals gelebt haben soll - ist sein Wissen die Größtmögliche Ohnmacht. Oder viel mehr: sein Wissen gepaart mit Vernunft.

In „Das Genie“ erzählt Zehrer detailliert recherchiert und mit Fiktion angereichert die Lebensgeschichte des William James Sidis und seines Vaters Boris Sidis.

Boris Sidis, der die berühmte Sidis-Erziehungsmethode erfand, um seinem Sohn zum leuchtende Vorreiter kommender Generationen von Genies zu formen.

Mein Favorit stand schnell und sicher fest.

Mein Argument für dieses Buch ist: So etwas habe ich noch nie gelesen. Nicht auf die eine und nicht auf die Andere Weise.

Es hat mir eine völlig neue Leseerfahrung beschert. Es geht tief, es ist kein Stück oberflächlich oder nachlässig geschrieben. Es gibt etwas zu denken und zu lernen über die großen Zusammenhänge in Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Technik und Politik.

Denn während wir als Leser das leben Wiliam Sidis' verfolgen wird klar, wie er sich mehr als alle anderen der Mechanismen des Zusammenlebens der Gesellschaft bewusst ist, und gerade daher seinen Platz darin nicht finden kann. Er sich nämlich vorgenommen hat keinem Menschen zu schaden, was ihm denkbar schwer fällt.

Allein eine Arbeit zu finden im aufstrebenden kapitalistischen Amerika, die nicht sinnlos oder gar schädlich ist, ist eine fast unbestehbare Herausforderung.

Er hat sich außerdem vorgenommen, nie zu lügen. Und wohin ihn das innerhalb der Gesellschaft führt, mag man sich üblicherweise nicht ausmahlen. In diesem Buch erleben wir die bitteren Konsequenzen eines des Versuches eines ehrlichen und friedfertigen Lebens.

Unter allen Shortlist-Büchern war "Das Genie" dasjenige, das ich nicht aus der Hand legen wollte, und bei dem ich mich auf das Weiterlesen immer freute.

Es war Spannend, denn die Geschichte war unvorhersehbar und dennoch wunderbar konsequent, wie die behandelte Person William James Sidis selbst.

Das Buch hat mich in die Zeit gezogen, Geschichte erlebbar gemacht, und mich neue Zusammenhänge gelehrt. Alles Dinge, die ich mir von einem Buch wünsche, und von denen ich bisher nicht hätte sagen können, dass ich sie so sehr brauche. Nun ist es mir klar. Das Buch lässt mich für die Zukunft neue Standards setzen.

Es gibt keine Schwächen in den Charakterdartstellungen, denn die Figuren sind dem echten Leben nachempfunden. Aber sie in allen Facetten nachzustellen und verstehbar zu machen, dass ist die Große Leistung Zehres.

Und das Buch ist motivierend - nachdem ich ausgelesen habe, möchte ich mich zurück ziehen und lernen, lernen, lernen. Toll!

"Das Genie" ist bei Diogenes erschienen

3 Punkte - "Still halten" von Jovana Reisinger

Die Hauptfigur in "Still halten", ist eine junge Frau Anfang Dreißig. Als wir sie kennen lernen, wird sie gerade ein Jahr lang krank geschrieben. Sie macht so etwas wie einen Bournout oder eine Depression durch. Für ein Jahr ausruhen und ein paar Medikamente, dann verspricht ihr der Arzt die Heilung. Sie ist ja noch jung.

Das Thema der Psychischen Krankheit ist nicht unbedingt neu. Auch Bücher aus der Perspektive eines langsam dem Wahn verfallenden Charakters gibt es schon. Aber hier hat mich die Umsetzung sehr überzeugt.

Und das, nachdem ich es während der ersten beiden Kapitel am liebsten hätte weglegen wollen. Im dritten wurde mir klar, wie ich mich dem Buch nähern kann, um Gewinn und Faszination daraus zu ziehen - nämlich über meine eigenen Erfahrungen mit psychischer Krankheit.

So habe ich erkannt, wie genau und bewusst die Jovana Reisinger das Thema vermittelt.

Großartig umgesetzt fand ich das Gefühl der zeitweisen Depersonalisierung, indem innerhalb eines Kapitels mitten in der Erzählung die Erzählerin wechselte vom Bezug auf sich selbst mit "Ich" zum Bezug auf sich selbst mit "die Frau".

Das Gefühl, sich selbst unbeteiligt zu betrachten, "in einem Film zu sein" wird hier deutlich.

Auch die Entfremdung vom eigenen Körper stellt die Autorin immer wieder konkret erlebbar dar.
„Ich stelle meinen Körper auf den Balkon und schaue in die Fester der gegenüberliegenden Wohnungen, in denen sich nichts tut.“ (S. 36)
In der Depression erhält die Hauptfigur Nachricht, ihre Mutter läge mit Lungenentzündung im Krankenhaus. Sie nimmt sich vor, die Mutter zu besuchen, indem sie die lange Strecke zur Klinik in 4 Tagen wandert. Natürlich ist es ihr unmöglich, sich dazu aufzuraffen. Die Mutter stirbt, und die Tochter macht sich Vorwürfe.

Sie erbt das Elternhaus in dem sie nie glücklich war, mitten auf dem Land, an einen Wald angrenzend. Dort verfällt sie immer mehr dem Wahn, die Natur hätte sich gegen sie verschworen und müsste ausgelöscht werden. Blumen riechen nach Verwesung. Rapsfelder sind giftgelb.
„Die Angst gebärt die Tiere“ (S. 90)

„Jetzt springt ein Eichhörnchen durch die Bäume. Jetzt ruft der Kauz. Jetzt schreien die Vögel. Ich will die Stille. In der absoluten Stille wird es den Moment einer absoluten Sicherheit geben.“ (S. 123)
Auch die häufigen Gründe für Überlastung stellt die Autorin wunderbar dar. Immer für andere leben, nie für sich. Immer sich anpassen, nie die eigenen Wünsche aussprechen und einbringen. Vergessen, für sich selbst zu sorgen und für sich selbst einzustehen.

Den eigenen Körper als Objekt für andere zu erleben.

Destruktive Gedanken, Gedanken an den Tod und das vordringliche sehen von Verderben und Verzweiflung überall, die sich ebenfalls typisch in der Depression aufdrängen, gibt Jovana Reisinger genau beobachtet wieder.

Für die Schonungslose, ehrliche, und stilistisch sehr gut gelungene Darstellung psychischer Krankheit applaudiere ich ihr, und gebe die drei Punkte.

"Still halten" ist im Verbrecher Verlag erschienen

1 Punkt - "Immer ist alles schön" von Julia Weber

"Immer ist alles schön" ist die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, Alkoholikerin, die an ihrem Leben und der Verantwortung ihren beiden Kindern gegenüber scheitert. Die Kinder verwahrlosen zunehmend. Es wird abwechselnd aus Sicht der Tochter Anais, und der Mutter Maria erzählt.

Weder die Theme Alkoholismus noch allein erziehend sein sind neu, aber beide sind gesellschaftlich relevant. Den Blickwinkel von Anais fand ich originell, den der Mutter nachvollziehbar.

Es war ein Buch das schwer weiter zu lesen ist, nicht nur wegen des bedrückenden Themas, sondern auch wegen der sehr lyrischen, unkonkreten Sprache.

„Zieht sich wie Kaugummi“, „Stillstand der Handlung“, „Distanz zur Geschichte durch sehr lyrische Sprache“. Das waren meine ersten Eindrücke und Notizen zum Buch. Ich hatte die erste zwei Kapitel gelesen. „Das Buch ist zu passiv, es passiert nichts“.

Am Ende jedoch, hat es für mich eine Runde Sache ergeben. Das Ende hat tatsächlich alles für mich herausgerissen. Ich hatte zwischendurch Befürchtungen, die Geschichte würde ins komplette Klischee rutschen, aber die Autorin blieb konsequent mit dem gewählten Thema.

Als ich das Buch zuklappte stellte ich leicht überrascht fest, dass ich es mochte, nachdem ich es nun in seiner Gesamtheit und ganzen Absicht erkannt hatte. Für mich war das etwas Neues, ein Buch zu mögen, dem ich während der konkreten Leseerfahrung sehr skeptisch Gegenüberstand.

Loben möchte ich auch die Gestaltung des Buches, in die viel Aufmerksamkeit und Liebe geflossen ist, wie man deutlich erkennen kann. Diese zusätzliche Aufmerksamkeit hat für meine Bewertung ebenfalls eine Rolle gespielt. Die Illustrationen am Ende, die Bilder der Kinder zu Situationen im Buch zeigen und uns die Kindersicht noch einmal näher bringen, haben mir sehr gut gefallen.

"Immer ist alles schön" ist bei Limmat erschienen

Warum die anderen Shortlistbücher keine Punkte von mir bekommen

Zur Überlegung hinsichtlich der Punktevergabe gehörte nicht nur, was bestimmte Bücher auszeichnete, sondern auch, was ich bei anderen vermisste. Natürlich waren meine Überlegungen komplex, ich möchte mir hier aber um Kürze bemühen:

"Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens" von Juliana Kálnay

...ist ein Buch über die Hausgemeinschaft der Nummer 29.

Hinter jede Wohnungstür, in jedem Stockwerk finden sich eigene Charaktere mit sehr eigenen Geschichten.

Ein Mann wird im Dritten Stock in einen Baum verwandelt und steht so auf dem Balkon, doch die Frau hält trotzdem eine innige Beziehung zu ihm aufrecht, indem sie aus seinen Früchten im Sommer Marmelade kocht, und mit den fallenden Blättern im Herbst ihre Bettwäsche füllt.

Eine Frau im zweiten Stock hat ein Aquarium und wacht eine Zeit lang jeden Morgen mit toten Fischen in ihrem Bett auf. Es lässt sich nicht erklären, warum.

In einer leeren Dachgeschosswohnung im vierten Stock verschwindet ein Kind.

Die Hausgemeinschaft bildet den losen Zusammenhang dieser Geschichten.

Ich mochte das Buch, ähnlich wie „Immer ist alles schön“ nachdem ich damit durch war. Als Gesamtwerk und -Absicht. Ich fand es mutig und originell.

Leider aber habe ich zu viel nicht verstanden.

Die Zeiten springen, die Erzähler wechseln, der Satz ändert sich für manche Kapitel. Es gab Dialoge, bei denen mir nicht klar war, wer spricht.

Manche Kapitel sind im Ich-Erzähler geschrieben, und ich wusste nicht, bei wem ich bin.

Das alles hat mich die erste Distanz zu den Geschichten nie überwinden lassen. Ich bin in diesen Text nicht hinein gekommen.

Am Ende hatte ich das Gefühl, von vorn beginnen zu müssen. Aber nicht auf eine gute Weise, sondern, weil ich Manches anders nicht verstehen würde. So sollte ein Buch seine Leserin nicht zurück lassen.

"Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens" erschien im Verlag Klaus Wagenbach

"Oder Florida" von Christian Bangel

"Oder Florida" ist eine Nachwendegeschichte. Sie spielt 1998 in Frankfurt Oder.

Matthias Freier ist freier Redakteur eines Stadtmagazins. Er ist 20, weiß nicht recht wohin im Leben und ärgert sich mit Nazis herum. Er wird in eine Kampagne verwickelt, in der die SPD übernommen, und ein Wirtschaftsboss Frankfurts als Bürgermeister etabliert werden soll.

Außerdem hat er eine Freundin, die mutiger und freier in die Zukunft sieht als er. So frei, dass sie örtlich nicht sehr gebunden, und meist so weit weg ist, dass man sich nur nach ihr sehnen kann.

Im Laufe der Geschichte werden viele Erfahrungen mit- und Sichtweise auf die Wende vorgestellt, Matthias kommt auch mal im Westen an und erlebt die Vorbehalte der Menschen dort gegen die aus der Zone.

Ich mochte das Buch dafür, dass es mich gut in die 90er zurück versetzt hat. Die Zeit, in der ich Kind war. Es war kurzweilig zu lesen, amüsant, und auch mit interessanten Hinweisen im Hinblick auf Entwicklungen in der heutigen Politik.

Das Thema war kein neues, und auch keine der Perspektiven war für mich sehr neu.

Ich denke mir, das ich dafür vielleicht zu jung bin. Die Hauptfigur ist nur ein paar Jahre älter als ich, hat aber auch noch ein paar Jahre bewusste Erziehung in der DDR erlebt. Ich hingegen habe dazu keinen Bezug mehr.

Das Thema ist für mich durch. Ich habe keine Groll oder irgendwelche Ost-West-Vorbehalte übrig. In meiner Generation sowieso nicht, und die älteren Leute finde ich, könnten auch mal darüber hinweg kommen.

Oder vielleicht habe ich auch schon zu viel darüber gehört, als dass ich noch davon gepackt werden könnte. Das Buch also war mir nicht relevant genug für die heutige Zeit.

Und ein technischer Gesichtspunkt: das Buch enthielt für mich offene Erzählstränge. „Tchechows Gewehr“, ging meiner Ansicht nach in ein-zwei Aspekten nicht los.

(Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es am Ende abgefeuert“
Anton Tchechow.)
"Oder Florida" erschien bei Piper

Schlussrede

Es bleibt mir nichts als Spannung, wie meine Mitjuroren ihre Punkte verteilt haben. Hoffentlich möglichst anders. Ich habe mich nämlich die ganze Zeit über zurück gehalten, auch nur irgendwelche anderen Eindrücke zu lesen, um meine eigenen nicht zu verwässern.

Und ein großes DANKESCHÖN and Dr. Bozena Anna Badura, Janine Hasse und Sarah Jäger für die Organisation des Preises. Danke an die Verlage für die Leseexemplare.

Jetzt lese ich ALLE anderen Rezensionen und Punktevergaben! 😀

Die anderen Jurybeiträge:

Angelika liest
Frau Hemingway
Frintze
Leckere Kekse
Lesen macht glücklich
Literaturgeflüster
Literatur leuchtet
LiteraturReich
mokita
Ruth Justen
Tausend Leben
Zwischen den Seiten