Wie erkläre ich es am Besten? Die Hauptfigur des Buches ist Paul - und Denise. Mehr aber Paul. Am liebsten Paul.

„Mit dem Kopf zuerst“ erzählt die Geschichte von Denise, die immer mehr Paul sein will, oder von Paul, der die prägenden Jahre seines Lebens als Denise aufwachsen musste. Wie es ist, intersexuell zu sein und mit diesen zwei „Bewohnern“ in einem Körper und Geist zu leben, in dem nichts zusammen passt. Und wie es ist, wenn sie einen in verschiedene Richtungen ziehen.


Mit dem Kopf zuerst

Autorin:Noëlle Châtelet
Verlag:Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-03387-8
Erscheinungsjahr: 2004
Seitenzahl:156
Preis: 6,90€
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Die Geschichte wird vom Ich-Erzähler zunächst sehr klar und ehrlich erzählt. Diese Kinderjahre haben mich beeindruckt, weil ich als Leser miterleben konnte, wie nach und nach klar wird, dass Denise nicht in die erwarteten Rollen passt. Wie fühlt sich das von innen an, zu merken, dass man sich anders entwickelt als erwartet - viel chaotischer - und während dieser Entwicklung nie ein Vorbild zu haben?
Denise Körper entwickelt mit der Pubertät sowohl Brüste als auch einen Mikropenis. Sie begrüßt aber nur die männlichen Anteile und möchte irgendwann ganz Paul sein.

Noëlle Châtelet beschreibt aus Kindersicht die Mutter, die sich sehr wünscht, ein Mädchen großzuziehen. Die auf die Bauchschmerzen hofft, die anzeigen, dass Denise erwachsen wird, die aber nicht kommen. Irgendwann muss auch die Mutter einsehen, das es ihrem Kind als Paul besser geht.
Der Vater, zunächst wütend über die Geburt eines Mädchens, wird zum Verbündeten, zu Pauls konsequenten Unterstützer.

Später erleben wir den Erzähler immer fahriger und unzuverlässiger. Ein Umstand, der dem erzählten Leben entspricht, in dem auch nichts gradlienig verläuft. Paul macht dunkle und verworrene Phasen durch. Zu leben ist nicht leicht für ihn. Immer der Widerspruch, wenn er in den Spiegel sieht. Immer seine eigene Unsicherheit. Er begegnet wohl Menschen, die ihn lieben, kann sie aber selbst nicht so lieben, wie er es sich wünscht, weil er nicht weiß, wer er ist und wer er sein darf.

Erzählung und Sprache in „Mit dem Kopf zuerst“

An der Erzählweise war für mich anstrengend, dass man alles in der Geschichte erst erfährt, nachdem es bereits geschehen ist. Nichts ist jemals „Jetzt“. Wir werden vor Tatsachen gestellt und müssen damit umgehen.
Dabei sind die Erzählzeiten auch nicht nach den wichtigsten Ereignissen gewählt. Grade gegen Ende des Buches kommt es vor, dass von einer Wiese erzählt wird, in der sich Paul gerne ausruht, und dabei beiläufig von einem prägenden Ereignis, dass zeitlich bereits übersprungen wurde. Es ist eine interessante Art zu erzählen, die uns ein wenig so verloren fühlen lässt wie Paul. Allerdings hat sie für mich auch bewirkt, dass ich mich nie richtig „in der Geschichte“ fühlte.

Die Sprache Noëlle Châtelets ist weiterhin hochpeotisch. Sie bedeckt die Tatsachen manchmal so mit wohlklingenden Andeutungen, dass man als Leser Acht geben muss. Aufmerksam lesen, um zu merken, worauf sich die Erzählung bezieht. Besonders wenn es darum geht, das Vergangenes erneut zum Thema wird.

Ich habe bereits drei andere Bestseller von Noëlle Châtelet gelesen. Auch dort gab es starke gefühlvolle Bilder, die sich durch die Geschichten zogen. Die Sprache war allerdings nicht so um Umschreibung bemüht wie in dieser Geschichte.
Ich finde es interessant, dass das Wort „intersexuell“ nicht einmal vorkommt. Paul lebt sein Leben scheinbar, ohne seinen Umstand benennen zu können. Dabei gibt es uns Kraft, ein Wort dafür zu haben was uns umtreibt, und es zeigt einem Menschen, dass er nicht allein ist. Paul hingegen fühlt sich sehr allein.
Ich habe das Buch bei der Aktion „Lesen für den Tierschutz“ auf Jessicas Blog Schattenwege erstanden. Vielleicht kannst Du ja auch helfen? Schau doch mal vorbei: Lesen für den Tierschutz 😉

Zweitlesefaktor

5/10. Vielleicht. Ich denke, da könnte man bei erneutem Lesen noch Manches besser verstehen und auf andere Details achten. Die Tiefe dazu ist vorhanden.

lohnt?

Für am Thema Interessierte. Ich habe „Mit dem Kopf zuerst" gern gelesen und das Buch ist nicht lang. Für einen Ausflug in das Thema lohnt es schon. Es lässt einen ein wenig verloren zurück, aber vielleicht nur so verloren, wie man zwischen den Geschlechtern eben ist.


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