"An dem Tag, an dem sie Santiago Nasar töten wollten, stand er um fünf Uhr dreißig morgens auf, um den Dampfer zu erwarten, mit dem der Bischof kam."
Der erste Satz der Geschichte zeigt das erstaunliche Zeitgefühl Gabriel Gacía Márquez'. Er erzählt rückblickend einen vergangenen Tag in der Gegenwart mit einem Ausblick auf die Zukunft dieses Tages... man bekommt ein Gefühl dafür, wie der Autor in der Geschichte durch Zeiten und Perspektiven springen wird, dass ich es gar nicht fassen konnte.

5_GGM_Chronik Chronik eines angekündigten Todes
(Original: Crónica de una muerta anunciada)

Autor: Gabriel García Márquez
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
Übersetzer: Curt Meyer-Clason
ISBN: 978-3-462-03719-7
(Taschenbuch: 978-3-462-30674-3)

Erscheinungsjahr: 2006
Seitenzahl: 128

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So heißt denn auch der erste Unterpunkt für diese Rezension:

Die Sprache!

Es folgt – wir sind immer noch auf der ersten Seite - solch ein Satz:

"Mehr noch: die zahlreichen Personen, denen er begegnete, nachdem er sein Haus um sechs Uhr früh verlassen hatte, bis er eine Stunde später wie ein Schwein abgestochen wurde, erinnerten sich seiner als etwas verschlafen, aber gut gelaunt, und zu allen bemerkte er, es sei ein sehr schöner Tag."
Und Du weißt, dass in der Geschichte von jetzt an alles möglich ist. Es gibt keine Konventionen, es gibt keine Tabus. Es gibt nur den Autor und ganz genau das, was er erzählen will. Es ist einer der Texte, deren Worte mir unter unter die Haut gehen, denn Gebriel García Márquez hat sich die Zeit genommen, auf jedes Wort konzentriert zu lauschen, bevor er es verwendete.

Das mag vielleicht anmaßend erscheinen, wo ich doch das Original nicht lesen kann. Ich denke aber, dass man anhand der lyrischen Qualität einer Übersetzung beurteilen kann, ob der Übersetzer der Stimmung und dem Ton des Werkes treu geblieben ist. Vielleicht schon allein an der Tatsache, dass überhaupt eine überliegende Stimmung und ein einheitliche Ton vorliegen. Und ich muss sagen, bis auf die geringste Ahnung, dass der Übersetzer sticken und stricken verwechselt haben könnte, habe ich hier keine Schnitzer oder Abwegigkeiten bermerkt, die ich mit Übersetzung in Verbindung bringen würde. Der Text scheint mir aus einem Guss.
Übrigens habe ich eine DDR Ausgabe vom Reclam Verlag, dem Kiepenhauer und Witsch offenbar die Lizenz für eine Veröffentlichung in der DDR überlassen hat. Der Übersetzer ist allerdings der gleiche, der auch in den Ausgaben angeführt wird, die sie gegenwärtig vertreiben. Ich gehe daher davon aus, dass sich mein Urteil auf diese gegenwärtigen Ausgaben übertragen lässt.

Als ich die ersten Seiten begonnen hatte, hatte ich eine kleine Städtereise vor mir. Und ich habe mich so sehr auf die Reise gefreut, weil ich dieses Buch zum Lesen hatte und jetzt genug Zeit in diversen Verkehrsmitteln dazu vor mir lag.

Eine Liebesgeschichte? Ein Krimi?

Satiago Nasar ist getötet worden, warum und selbst von wem, kommt erst nach und nach heraus. Ich könnte manchen das Leseerlebnis verderben, wenn ich es hier erkläre. Interessannt ist aber die Herangehensweise des Autors. Es ist wie ein Krimi rückwärts. Die Geschichte aus der Perspektive eines Dorfbewohners 20 Jahre später berichtet, indem er verschiedene andere Bewohner des Dorfes mit dem zitiert, woran sie sich von diesem verhängnisvollen Tag erinnern. Nach und nach wird so klar, dass alle von dem Vorhaben, Santiago Nasar umzubringen, gewusst haben. Es war mehrmals angekündigt worden. Selbst seine Mörder schwankten. Wie konnte es trotzdem geschehen, dass der Mord geschah? Ausgangspunkt des geplanten Mordes ist eine Hochzeit. Ein unbekannter Reicher war im Dorf erschienen, um eine Tochter des Dorfes zu heiraten. Die Heirat zerschlägt sich, doch eingewoben in die Erzählung ist dennoch eine erstaunliche, weil sehr unkonventionelle Liebesgeschichte.

Leseerfahrung

Schon lange hat keine Geschichte mehr so extrem gegensätzliche Gefühlsausbrüche in mir ausgelöst. Gelächter, Trauer, Verwunderung, Ekel, Anspannung, Verneinung, Hoffnung ... ja, Hoffnung. Denn obwohl der angekündigte Tod von Anfang an als Tatsache feststeht, unverrückbar immer wieder erwähnt wird, es keinen Zweifel daran gibt, dass der Mord stattfand, ja auf der letzten Zeitebene bereits seit mehr als 20 Jahren vergangen ist, denke ich, können wir Menschen einfach nicht anders als zu Hoffen, er möge in letzter Sekunde vereitelt werden.
Dieses Spannungsfeld abzuschreiten hat García Márquez meisterhaft verstanden. Wie er dabei mit Leichtigkeit Raum, Zeit und Perspektiven wechselst hat mir imponiert.

Zweitlesefaktor

10 von 10. Zu gut, ums nur ein Mal zu lesen. Man überliest bei ersten Mal vermutlich auch einige Nuancen, weil man doch sehr gespannt ist.

Was bleibt

Ein neuer Lieblingsautor. Ein paar Bücher mehr, die fest auf dem Plan derjenigen stehen, die ich in meinem Leben auf jeden Fall noch lesen werde. (Denn man kann sich ja viel vornehmen oder vage wünschen aber man schafft eben nur eine gewisse Zahl in der uns durchschnittlich beschehrten Lebenszeit, also muss man Prioritäten setzen, nicht wahr 😉 ).

Und ich habe den wunderbarsten Fluch in dem Buch gefunden: "Hoden des Herrgotts!" Wirklich, darüber musste ich lachen, sooft ich es mir wiederholt hab. Ich könnte natürlich gern spanisch und wüsste wie dieser Fluch im Original klingt. Aber allein dass er im deutschen so einen schönen Stabreim abgibt; ich hab mich nicht mehr einbekommen!




Lohnt?

Ihr erratet es: Ja. Eines der besten Bücher die ich 2016 gelesen habe. Für alle die Spannung und eine sehr klare, freie Sprache lieben.