Ich beginne mit meinem Freund und mir im Bett. Haut an Haut. Meinen Kopf habe ich in seine Halsbeuge gekuschelt. Hinter einem Punkt auf meiner Stirn, etwa 5 Zentimeter über meinen Augen und mittig gelegen, entsteht gerade ein Abenteuer.

Wir sind in Narnja. Das Land ist in Gefahr. Es ist immer Winter - aber niemals Weihnachten! - und die weiße Hexe versteinert gute Bürger. Sie nährt die Kälte in den Herzen derer, die sie trifft. Sie besticht mit türkischem Honig und dem Versprechen von Macht.

Ich höre die Geschichte mit den Worten des Autors, aber in der Stimme meines Freundes: warm, und angenehm tief. Ich kann spüren wie sie in seinem Brustraum vibriert.

Hier ist zu Hause.

Das Vorlesen ist eine Tradition, die Familie schafft. Wer mir vorliest kommt mir für diesen Augenblick ganz nah. Hörbuchsprecher lasse ich bewusst in mein Bett. Für einen Abend haben wie ein Rendez-Vouz. Denn es gibt etwas zu erzählen.

Vorlesen hat viele Vorteile im Kindesalter: Es führt an die Welt des Lesens heran und macht Bücher interessant. Es motiviert zum Selbst lesen. Es lehrt guten Ausdruck und und erweitert den Wortschatz. Ich selbst bin Leserin, weil mir von meiner Oma vorgelesen wurde.

Vor allem aber ist Vorlesen Zusammen sein.

Denn, geben wir es zu: Das Lesen ist sonst eine einsame Beschäftigung. Es ist Zeit mit sich selbst. Zeit, in die eigenen Interessen einzutauchen oder mal eben die Heldin einer anderen Welt zu sein. Wir können in uns gehen, inne halten, uns mit Konflikten auseinander setzen und an ihnen wachsen.

Vorlesen auf der anderen Seite, ist ein Zusammenkommen. Eine Einladung, diese Interessen gemeinsam zu verfolgen. Diese Welt gemeinsam zu betreten und das Abenteuer als Team zu bestehen. Das gilt sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter.

Dieses schöne Ritual sollten wir daher nicht aufgeben, wenn Kinder selbst lesen lernen.

Der Vorleser gibt etwas von sich in die Geschichte hinein. Er interpretiert sie für uns. Er kennt sie gut und kann uns wichtige Aspekte noch deutlicher machen.

Geschichten zu erzählen ist zutiefst menschlich, und Vorzulesen zutiefst sozial.

Und Vorlesen ist Geborgenheit.

Dem Ritual wohnt inne, dass man sich gehen lassen, die Gedanken schweifen lassen kann. Dass man seinen Horizont erweitert und dabei selbst die Grenzen setzt.

Denn der Artikel endet auch mit meinem Freund und mir im Bett. Ich merke, wie sich das Abenteuer mit meinen eigenen Geschichten vermischt, und mein Hirn beginnt, einen Traum zu spinnen.

„Lass uns für heute Schluss machen, ich bin schon müde.“
„Wir sind mitten im Kapitel.“
„Ja, aber wenn Du jetzt weiter liest werde ich mich morgen nicht mehr erinnern.“
„Ach Du.“
Schon bei meiner Oma bin ich während des Vorlesens eingeschlafen. Dennoch habe ich irgendwann alle Märchen auswendig gekannt. Ein Hörbuch läuft geduldig weiter, während ich schon schlafe. Am nächsten Morgen suche ich einfach die Stelle, bis zu der ich die Geschichte miterlebt habe.

Du bist gut so wie Du bist, sagt der Vorleser. Hier ist zu Hause.