„Ach, wenn es mich doch nur gruselte. Ach! Wenn es mich doch nur gruselte!“

Ich kann mich noch genau an die Stimme meiner Oma erinnern, wie sie meinem Bruder und mir vor dem Einschlafen Grimms Märchen vorlas. „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ war eine Weile unser Favorit. Wie oft muss sie es vorgelesen haben? Immer zuverlässig mit der gleichen Betonung. Immer neu die Geschichte mit ihren Höhepunkten erschaffend, so dass wir beruhigt darauf vertrauen konnten, dass uns an den gleichen Stellen wieder der gleiche Spannungskitzel überkommt.

So habe ich in meiner Kindheit gelernt, dass die Worte in Büchern lebendig werden, wenn man seine Aufmerksamkeit auf sie richtet. Dass in Büchern wichtige und spannende Gedanken zu finden sind. Mein Bruder konnte vor mir lesen und hat mir auch vorgelesen, kurz bevor ich in die Schule kam. Ich konnte es gar nicht erwarten, endlich selbst lesen zu können. Diese wundersame Fähigkeit, die aus Buchstaben Abenteuer macht.

Und dann hatte ich ihn, den Schlüssel, der für alle die so viel verheißenden Türen passte. Jedes neue Buch voller ungekannter Fragen. Wie lebt es sich als junges Mädchen unter Indianern zur Zeit der Siedler in Amerika? Und was würde man also tun, wenn ein eher unsympathisches Mädchen durch die eigene Schuld mit einem Troll in der Toilette feststeckt?
Während ich groß wurde, wurde ich empathischer, erlangte Allgemeinwissen, erschloss mir neue Themen – Ich eroberte mir die Welt. Sich eine von Grund auf andere Welt vorstellen? Auch kein Problem. Ich wurde flexibel im Kopf. Wenn andere mich heutzutage fragen: „Kannst Du Dir das vorstellen?!“ Ist meine Antwort immer: Ja. Natürlich kann ich mir alles mögliche vorstellen. Ich lese.

Wie das Lernen einer Fremdsprache eröffnet das Lesen neue Blickwinkel. Und es ist Sprache lernen. Jedes Buch ist in seiner Originalsprache das Entdecken dessen, was man mit ihr ausdrücken kann. Immer wieder werden von den Autoren mutig die Grenzen des Beschreibbaren ausgelotet, und ich folge ihnen auf ihrem Weg. Als Kind hat es mir so Spaß gemacht, während des Lesens neue Wörter zu lernen. Auf einmal konnte ich selbst soviel mehr sagen. Und auch wenn jetzt mal ein Buch sprachlich herausfordert, und ich immer noch ein paar neue Wörter darin finde, spüren ich die gleiche Freude und Begeisterung.
Meine letzten gesammelten Worte: saumselig, gestundet, annihilieren. Großartig! Je mehr Worte wir haben, desto freier fließen unseren Gedanken. Ja, desto mehr können wir überhaupt erst denken, denn wofür wir die Sprache nicht haben, davon können wir uns keine Vorstellung machen.

Ich lese, um gelenkig im Kopf zu bleiben, mich in die Vergangenheit und in die Zukunft zu vertiefen und gemeinsam mit den Figuren bis an die Grenzen des Vorstellbaren zu gehen. Um aus den Geschichten zu lernen, aber auch für die Freude an der Sprache selbst. Um abzuschalten und Momente der Ruhe und Sicherheit zu finden, in diesem immer neuen Ritual, wie als Kind, wenn meine Oma die bekannte Stelle zum 20sten Mal vorlas: „Ach, wenn es mich doch nur gruselte!“

*
Dieser Artikel ist ein Beitrag zu der wunderbar vielseitigen blogübergreifenden Kommunikation, die durch den Artikel "Warum ich lese" vom Literaturblog Novelero angestoßen wurde. Vielen Dank.